Juni 1992: Hausgemachte Bausünden. Der Architekt Meinrad von Ow hat eine Dokumentation mit dem Untertitel „Sünden der Vergangenheit, Versäumnisse der Gegenwart“ erstellt. Das größte Problem Münchens ist der fehlende bezahlbare Wohnraum durch hohe Grundstücks- und Baupreise. Hinzu kommt die permanente Umwandlung von Wohnraum in Gewerberaum. Von Ow stellt fest, dass die Stadt das Wirtschaftswachstum auf Kosten der Wohnbevölkerung gefördert und damit gegen ihre eigenen Zielvorstellungen verstoßen hat. Investoren und Immobiliengewerbe, Banken und Versicherungen und die Hauseigentümer selbst nutzten dies aus. Systematisch und zum Teil kriminell wurden die Mieter vertrieben. Umnutzungen von Wohnraum in gewerbliche Flächen erfolgten ohne Zustimmung der Behörden. Der damalige OB Hans-Jochen Vogel (SPD) protestierte im Herbst 1969 gegen einen verringerten Mieterschutz. Mit dem Flächennutzungsplan von 1978 wurde das Kerngebiet wieder in Wohngebiet umgewidmet, aber da bestanden die gewerblichen Strukturen (u. a. Kanzleien, Versicherungen) schon – z. B. in der Königinstraße und im Lehel.1
Beispiel Tucherpark-Umwidmung: Der Tucherpark war ein ehemaliges Landschaftsschutzgebiet – bis 1992. Im März 1971 startete die Bebauung mit einem Freizeitareal für Bankangestellte. Im Herbst 1971 wurde ein viermal so großes Gebäude, wie ursprünglich festgelegt, genehmigt. 1991 kam das Hilton Hotel Munich Park hinzu. Westlich des Eisbachs wies die Planung Grünfläche und Allgemeines Wohngebiet aus: inzwischen mit Bankbauten überbaut. Der Sederanger im östlichen Teil des Tucherparks war als Wohngebiet ausgewiesen und wurde zum Kerngebiet, in dem laut Stadt „nur Verwaltungsgebäude für Dienstleistungsbetriebe errichtet werden“. Meinrad von Ow: „Hier beschließen Konzerne widerrechtlich, im Wohngebiet Verwaltungsgebäude zu errichten, und die Stadt reagiert damit, dass sie expressis verbis deswegen das Gebiet zum Kerngebiet erklärt.“1
Juni 1992: München liegt bei Wohnungs-Neubauten vorn. 1991 wurden hier 5834 Wohnungen gebaut (West-Berlin 5547, Köln 2881, Düsseldorf 2130, Stuttgart 1689, Frankfurt 1221). Von 1984 bis 1991 waren es hier 56.235 Wohnungs-Neubauten.2
Juni 1992: Münchner Linie gefährdet. Die „Münchner Linie“ besagte, dass seit Mai 1989 neue Miethäuser und Altbauten nur noch aufgeteilt werden dürfen, wenn deren Bausubstanz den neuesten Vorschriften entspricht. Das war ein wichtiges Mittel gegen die Spekulation. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) haben diese Münchner Linie juristisch anerkannt. Nun wird aber am 30.6.1992 der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe in Karlsruhe über die Erteilung der Abgeschlossenheitsbescheinigung entscheiden, die für den Übergang von einer Mietwohnung in Eigentum entscheidend ist und in das Eigentumsrecht fällt. Die Abgeschlossenheitserklärung dagegen ist ein baurechtliches technisches Erlaubniskriterium. Der Münchner Bürgermeister Christian Ude (SPD) befürchtet eine Entscheidung über die formalrechtliche Frage, ob eine solche Verquickung juristisch zulässig ist. Bei einem Pressegespräch erläuterte Ude die Folgen einer Aufhebung der Münchner Linie. Vor ihr wurde rund die Hälfte der Wohnungen modernisiert mit der Folge einer 30-prozentigen Mieterhöhung. Bei wegen der nun höheren Miete frei werdenden Wohnungen (rund 40 Prozent der Fälle bei Wohnungsumwandlung) steigt die Miete um durchschnittlich 54 Prozent. In München lagen dem Planungsreferat von 1981 bis 1988 jährlich über 5000 Abgeschlossenheitsbescheinigungen vor, die Gesamtzahl lag bei 41.734. durch die Münchner Linie waren es 1991 lediglich 991.3
Juni 1992: Mietrechtsnovelle des Bundes. Der Gesetzentwurf des Bundes zur Änderung des Mietrechts wurde von Bürgermeister Christian Ude (SPD), Innenminister Edmund Stoiber (CSU), dem Vorsitzenden des Münchner Haus- und Grundbesitzervereins, Gerd Kaltenegger und dem wohnungspolitischen Sprecher der CSU, Gustav Matschl als „unbefriedigend“ kritisiert. Matschl warf der FPD vor, die Koalitionsvereinbarung mit der CDU/CSU eineinhalb Jahre verzögert zu haben, wofür deren Ministerin Irmgard Schwätzer und der frühere Justizminister Klaus Kinkel verantwortlich seien. Die Senkung der Kappungsgrenze auf 20 Prozent sei unzureichend, die Regelung mit der ortsüblichen Vergleichsmiete hätte zehn Jahre betragen sollen; außerdem schaffe die Geltungsdauer des Gesetzes mit nur fünf Jahren keine dauerhafte Rechtssicherheit.4
Die möglichen Folgen beschrieb Helmut Maier-Mannhardt: Es muss mit einer Welle von Umwandlungen gerechnet werden. Die Mieter sind fünf Jahre vor einer Kündigung geschützt – speziell für ältere Mieter nicht beruhigend. Die häufig angewandte Methode: Aufteilung in Eigentumswohnungen, Luxussanierungen, Verkauf zum nächstmöglichen Zeitpunkt und zum höchsten zu erzielenden Preis. Mieter können die neue, wesentlich höhere Miete nicht mehr zahlen und müssen ausziehen. Dazu kommen Schikanen und Entmietungen. Auch Maier-Mannhardt lenkte den Blick auf die Bodenpreise, deren Anteil an den Gestehungskosten innerhalb von knapp 20 Jahren von 20 auf über 50 Prozent gestiegen ist. Er verwies auf das Baugesetzbuch mit den Regelungen Baugebot, Vorkaufsrecht für Gemeinden, Planwertausgleich bei der Erschließung von Bauland.5
Hier eine Ergänzung zum aktuellen „Baugesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. November 2017“, zuletzt geändert am 8.8.2020 (https://www.gesetze-im-internet.de/bbaug/BJNR003410960.html):
– Baugebot: § 176, 236; – gesetzliches Vorkaufsrecht der Gemeinde: § 24.
- Münster, Thomas, Die größten Bausünden sind hausgemacht, in SZ 1.6.1992 [↩] [↩]
- München liegt beim Wohnungsbau an der Spitze, in SZ 6.6.1992 [↩]
- Münster, Thomas, Die Münchner Linie steht auf dem Prüfstand, in SZ 11.6.1992 [↩]
- Münster, Thomas, Mietrechtsnovelle zu spät und falsch, in SZ 22.6.1992 [↩]
- Maier-Mannhardt, Helmut; Ein Urteil und seine Folgen, in SZ 3.7.1992 [↩]