Aktualisiert 5.7.2023
Enteignungsinitiative. In Berlin hat sich die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ (DWE) gebildet. Aus der Webseite: „Nach Jahren der Spekulation und der explodierenden Mieten in Berlin fordern wir ein Ende des Wahnsinns: Wir wollen durch einen Volksentscheid etwa 240.000 Wohnungen von Immobilienkonzernen vergesellschaften. Die Möglichkeit dafür schafft Artikel 15 des Grundgesetzes.
Die Vergesellschaftung würde elf Prozent der Wohnungen in Berlin nicht nur sofort sichern, sondern auch für immer erschwinglich halten. Keine Spekulation mehr durch Finanzinvestoren. Keine Hausverkäufe im großen Stil zu Schnäppchenpreisen mehr. Keine Zwangsräumung mehr von Leuten, die sich ihre Wohnung plötzlich nicht mehr leisten können.“1
Volksbegehren zulässig. 2019 hatte die Initiative 57.000 Unterschriften für einen Antrag auf ein Volksbegehren gesammelt: 20.000 wären nötig gewesen. Dann ließ der Innensenator Andreas Geisel (SPD) 441 Tage den Antrag rechtlich prüfen. Am 17.9.2020 war die juristische Prüfung endlich abgeschlossen: Das Volksbegehren ist rechtlich zulässig. Der Senat muss in 15 Tagen dazu eine Stellungnahme abgeben, danach muss sich das Parlament innerhalb von vier Wochen mit dem Volksbegehren befassen. Dann kommt es zum Volksentscheid, wenn die Initiative 175.000 Unterschriften (7 Prozent der Wahlberechtigten) sammelt. Danach muss es innerhalb von vier Monaten zur Abstimmung kommen: Hier müssen sich mindestens 25 Prozent der Berliner Wahlberechtigten dafür aussprechen. Die Kosten lägen nach Schätzungen zwischen 7 und 37 Milliarden Euro und beträfen rund 250.000 Wohnungen.2 Die Stimmung in der rot-rot-grünen Regierungskoalition in Berlin ist gespalten: Viele Grüne und Linke unterstützen die Initiative, die SPD ist dagegen.3
Grüne für Enteignung. Auf ihrem Berliner Parteitag unterstützten die Grünen mit großer Mehrheit das Volksbegehren auch mit Verweis auf das Grundgesetz („Eigentum verpflichtet“), wollen aber dafür „qualitative Kriterien“ erarbeiten. Damit gerät die rot-rot-grüne Berliner Koalition in ein Dilemma, da die SPD strikt gegen Enteignungen ist. Seit 26.2.2021 sammelt das Bündnis Unterschriften.4
Stimmenzahl erreicht. Die Berliner Initiative hat am 25.6.2021 in vier Monaten 349.658 Unterschriften gesammelt, von denen nach Auskunft der Landeswahlleiterin bei der Überprüfung von 260.708 Unterschiften 175.782 gültig sind: Damit wurde das Quorum erreicht. Über den Berliner Volksentscheid soll bei der Bundestagswahl am 26.9.2021 abgestimmt werden. Etwa 240.000 Wohnungen sollen in öffentlichen Besitz überführt werden, um den Anstieg der Mieten zu bremsen. Der Senat ist bei Annahme des Volksentscheides aber nicht verpflichtet, hierzu ein Gesetz zu erlassen. FDP, CDU und SPD lehnen die Pläne ab.5
Immobilienformen nicht für Enteignung. Vonovia ist Vermieter von und 43.000 Wohnungen in Berlin (Wert etwa 7,8 Milliarden Euro) und will gerade Konkurrent Deutsche Wohnen mit 113.000 Wohnungen in Berlin übernehmen. Vonovia erklärte bereits 2019: „Durch Enteignung und Mietendeckel entsteht keine einzige neue Wohnung.“6 Nach der Fusion mit Deutsche Wohnen will Vonovia in Berlin 13.000 Wohnungen bauen und dem Stadtstaat Berlin 20.000 Wohnungen verkaufen. In Berlin gibt es nach Angaben der Behörden knapp 1,7 Millionen Mietwohnungen: Etwa 322.000 gehören städtischen Wohnungsgesellschaften und 189.000 Genossenschaften. Vonovia und Deutsche Wohnen halten 150.000.78
Bundeskartellamt genehmigt Fusion. Das Bundeskartellamt hat die Lage in verschiedenen Städten untersucht, auch in Berlin. Durch die Übernahme von Deutsche Wohnen durch Vonovia seien die regionalen Marktanteile nicht so hoch, dass man die Fusion untersagen dürfe, sagte Präsident Andreas Mundt.7
April 2021: BVerfG kippt Berliner Mietendeckel. Rouzbeh Taheri von der Initiative äußerte dazu: „Das ist ein Pyrrhussieg für die Immobilienwirtschaft“ und erwartet dadurch eine größere Unterstützung für seine Initiative. Sie ließ als Antwort Plakate drucken mit dem Text: „Mietendeckel gekippt, Enteignung erst jetzt recht.“9
Abstimmung am 26.9.2021. Das Chaos war abzusehen: Am 26.9.2021 ist in Berlin 1) Bundestagswahl, 2) Wahl zum Abgeordnetenhaus, 3) Abstimmung über den Volksentscheid und 4) der Berlin-Marathon. Bis 25.6.2021 hatte die Initiative 349.658 Unterschriften gesammelt; etwa 175.000 wären nötig gewesen. Die Initiative hat den Plan, rund 240.000 Wohnungen in öffentliches Eigentum zu überführen. FDP, CDU und SPD lehnen dies ab.5
56,4 Prozent dafür. So viele Wähler stimmten am 26.9.2021 für die Enteignungs-Initiative: 39 Prozent waren dagegen. Der Volksentscheid ist nicht bindend für den Berliner Senat, außerdem sieht die Berliner Verfassung keine Vergesellschaftung vor. (Diese steht im § 15 des Grundgesetzes, wurde aber noch nie angewendet.) . Für die neue Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) schafft Enteignung keine einzige neue Wohnung und löst auch nicht das Problem des bezahlbaren Wohnraums. Bei einer Civey-Meinungsumfrage hielten 68 Prozent den Neubau bezahlbarer Wohnungen für das beste Instrument. Der Berliner Senat hatte im September 2020 die Entschädigungskosten für die Enteignung auf 28,8 bis 36 Milliarden Euro berechnet, mehr als der Gesamthaushalt von Berlin. Die Enteignungsinitiative berechnete nur zwischen 7,3 bis 13,7 Milliarden Euro: Man könne die Unternehmen „deutlich unter Marktwert“ entschädigen. Eine Berliner Lösung könnte in einem „Mieterschutzschirm“ liegen, wie von Vonovia und Deutsche Wohnen im Frühjahr 2021 zugesagt: Mieterhöhungen in den nächsten drei Jahren von jährlich höchstens einem Prozent, in den nächsten zwei Jahren Begrenzung auf den Inflationsausgleich.10
Die Inflationsrate könnte bis Ende 2021 auf fünf Prozent oder mehr klettern.
Keine Angst vor Enteignung in Berlin. Der schwedische Immobilienkonzern Heimstaden hat kurz nach der Abstimmung 17.600 Wohnungen vom schwedischen Immobilienunternehmen Akelius Residential Property AB gekauft. Davon befinden sich 14.050 in Berlin und knapp 3600 in Hamburg. Heimstaden gab die Übernahme am 27.9.2021 bekannt, als auch die 56,4 Prozent des Volksentscheides pro Enteignung fest standen.1112
Bauen statt enteignen? In Berlin stiegen die Mietpreise zwischen 2011 und 2021 um 59 Prozent, in Leipzig um 58, in München um 56, in Stuttgart um 54 Prozent. Gleichzeitig stiegen die Bodenpreise um ein Vielfaches: Sie bilden inzwischen bis zu 80 Prozent der Kosten von Neubauten und lassen nur noch Luxuswohnungen rentabel erscheinen. In den Stadtkernen bleiben im schlechtesten Fall Konzerne, Gewerbe und Luxuswohnungen übrig. In einem Interview schlug der schwedische Immobilien-Großinvestor Roger Akelius vor, riesige Ausweichquartiere 20 Kilometer außerhalb der Zentren zu bauen. Als Antwort auf die Berliner Enteignungs-Initiative will die Scholz-Regierung jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen, davon 100.000 Sozialwohnungen. Die äußeren Bedingungen lassen das im Ampel-Koalitionsvertrag verzeichnete Vorhaben schwierig werden. Laut Bau-Branchenverband Zentraler Immobilien-Ausschuss (ZIA) hat sich die Zahl der Bauvorschriften in den letzten 30 Jahren auf 20.000 vervierfacht. Der städtische Boden ist nicht vermehrbar, die Preise für Baumaterialien steigen. In Berlin ging die Zahl der Baugenehmigungen im ersten Halbjahr 2021 um 30 Prozent zurück. Der grüne Berliner Baustadtrat Florian Schmidt aus dem Bezirk Friedrichhain-Kreuzberg hat in den letzten fünf Jahren bei etwa 800 Wohnungen das Vorkaufsrecht zugunsten städtischer Gesellschaften, Genossenschaften oder privater Eigentümer ausgeübt; bei 1200 Objekten unterschrieben die Investoren eine Abwendungsvereinbarung. Dann stoppte das Bundesverwaltungsgericht deutschlandweit diese Methode mit seinem Urteil vom November 2021.13
Enteignung doch möglich? Die vom Senat eingesetzte 13-köpfige Expertenkommission zum Volksentscheid vom 26.9.2021 hat einen Entwurf für einen Zwischenbericht vorgelegt. Die Vergesellschaftung von Grund und Boden fällt unter die konkurrierende Gesetzgebung. Da der Bund hier bisher aber nicht aktiv wurde, könne das Land Berlin diese Vergesellschaftung selbst regeln. Allerdings stufte das Expertengremium ein Gesetz zur Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen als “verfassungsrechtlich problematisch” ein. Bis Ende April 2023 soll die Expertise fertig sein. Die Neuwahl zum Berliner Abgeordnetenhaus findet am 12.2.2023 statt.14
Neues Gutachten stützt Enteignung. Am 28.6.2023 übergab die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) den Abschlussbericht der Expertenkommission zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegener (CDU). Fazit: Eine Vergesellschaftung sei rein rechtlich möglich und verstoße nicht gegen das Grundgesetz. Die DWE feierte natürlich das neue Gutachten: Die Enteignung sei also verhältnismäßig, rechtssicher und finanzierbar. Die schwarz-rote Koalition wollte schon in ihrem Koalitionsvertrag ein “Vergesellschaftungsrahmengesetz” prüfen und objektive Kriterien festlegen lassen. Dort steht aber auch, dass ein solches Gesetz erst zwei Jahre nach seiner Verkündung in Kraft tritt.15
Vgl.: Deutsche Wohnen
- https://www.dwenteignen.de/ [↩]
- Joswig, Gareth, Deutsche Wohnen & Co. enteignen zulässig: Sozialismus kann kommen, in taz.de 17.9.2020 [↩]
- Heidtmann, Jan, Volksbegehren zur Enteignung ist zulässig, in SZ 18.9.2020 [↩]
- Berliner Grüne drohen Wohnungskonzernen mit Enteignung, in SZ 20.3.2021 [↩]
- Berlin steht vor Volksbefragung über Immobilien-Enteignung, in spiegel.de 25.6.2021 [↩] [↩]
- https://presse.vonovia.de/de-de/aktuelles/190802-halbjahresergebnis-2019 [↩]
- Vonovia und Deutsche Wohnen dürfen fusionieren, in SZ 28.6.2021 [↩] [↩]
- Müller-Arnold, Benedikt, Enteignen oder nicht?, in SZ 28.6.2021 [↩]
- Heidtmann, Jan, Wohnungsprobleme ungelöst, in SZ 16.4.2021 [↩]
- Jauernig, Henning, Werden die Wohnungskonzerne jetzt wirklich enteignet? in spiegel.de 27.9.2021 [↩]
- Schwedischer Immobilienkonzern kauft 14.000 Wohnungen in Berlin, in spiegel.de 27.9.2021 [↩]
- https://heimstaden.com/de/blog/aktuelles/offener-brief-von-heimstaden-an-die-mieterinnen-und-mieter-von-akelius/ [↩]
- Jauernig, Henning, Knödler, Janne, Kröger, Michael, Wer will da noch bauen?, in Der Spiegel 1/30.12.2022 [↩]
- Expertenkommission hält Enteignung von Wohnungskonzernen wohl für möglich, in spiegel.de 9.12.2022 [↩]
- Prado, Simon Sales, Berlin darf Wohnkonzerne enteignen, in SZ 29.6.2023 [↩]