Alexander Mitscherlich zitierte in seinem Buch über die Unwirtlichkeit der Städte (1965) den damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer: „Wir leiden nach meiner tiefsten Überzeugung in der Hauptsache in unserem Volk an der falschen Bodenpolitik der vergangenen Jahrzehnte.“ – „Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit.“1 Er folgert: „Es wird eine geradezu heroische Bezähmung des Egoismus vorausgesetzt, wenn es zu einer Neuordnung der städtischen Grundbesitzverhältnisse kommen soll, nach der erst so etwas wie die Planung der Stadt ernstlich in Angriff genommen werden kann.“2
Inzwischen sind über 55 Jahre vergangen: Und der Egoismus ist ungezähmter denn je.
Exkurs: Hans-Jochen Vogel, Mehr Gerechtigkeit!
In seinem letzten Buch setzte sich Hans-Joachim Vogel (SPD) für ein gerechteres Bodenrecht ein und zeigte dessen historische Abfolge, mit der sich Vogel seit 50 Jahren beschäftigte.3.
– In München hat sich seit 1950 der durchschnittliche Quadratmeterpreis um 2234 Prozent erhöht. Der Kostenanteil des Grundstücks lag 2018 in München bei 79 Prozent (Baukosten: 21 Prozent). – Im November 1970 regte der damalige OB Vogel einen Stadtratsbeschluss für eine Reform des Bodenrechts an und kritisierte die Bereicherung einer kleinen Minderheit durch die Bodenspekulation. Ein Zitat aus dem Beschluss: „Boden ist jedoch unproduzierbar. Trotzdem wird er gehandelt wie Ware in einem Kramerladen, d. h. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.“ (S. 14) Vogel war ab Dezember 1972 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und ließ eine Novelle zum Bundesbaugesetz ausarbeiten. Sie enthielt u. a. eine Erweiterung des kommunalen Vorkaufsrechts, Bau-, Nutzungs-, Abbruchs- und Erhaltungsgebote und eine Planungsgewinnabgabe. Der Koalitionspartner FDP und die Opposition stoppten u. a. die Planungsgewinnabgabe. (S. 22) – 1987 gewährte eine Bestimmung im Baurecht den Kommunen das Recht zum Abschluss städtebaulicher Verträge. – 1998 kam der (heutige) § 11 in das BauGB, der eine sozialgerechte Bodenordnung ermöglichen sollte: Investoren mussten sich verpflichten, mit einem bis zwei Drittel ihres Planungsgewinns bei den Kosten der von ihnen verursachten Infrastrukturmaßnahmen beizutragen. (S. 23) – Die Baulandpreise stiegen weiter, von der Union und der FDP akzeptiert. Auch die SPD knickte im Lauf der Zeit ein. Beim Mannheimer Parteitag 1975 wurden noch Vorlagen für ein erweitertes städtebauliches Erbbaurecht diskutiert. Der Hamburger Parteitag 1977 sprach sich für dieses aus. Im Berliner SPD-Grundsatzprogramm bekam das Thema Bodenordnung noch einen Abschnitt, im Hamburger Grundsatzprogramm 2007 wurden Grund und Boden nicht mehr erwähnt. (S. 23ff) -2018 stand auf Initiative von Vogel im schwarz-roten Koalitionsvertrag vom März 2018: „Für eine ‚nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik‘ werden wir eine Enquete-Kommission einsetzen.“ (S. 27) – Vogel machte der Enquete-Kommission viele Vorschläge, die nur zum Teil im Schlussbericht vom Juli 2019 aufgegriffen wurden. (S. 30 – 36) – Vogel erwähnte das positive Beispiel der Stadt Wien, die über Jahrzehnte kontinuierlich Boden erworben und Mietwohnungen gebaut hat. (S. 36ff) – Die Belastung der Mieter durch die Mieten wird immer höher. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung vom September 2017 entrichten in Großstädten mehr als 40 Prozent der Haushalte über 30 Prozent ihres Einkommens für ihre Miete. (S. 42) – Die Bodenwertzuwäche begründen sich in ständig steigenden Mieten und Grundstückspreisen, in der schlechten Rendite von Geldanlagen bis hin zu Minuszinsen, in der Bankenkrise von 2007. (S. 47f) – Im Grundgesetz steht im Artikel 14, Absatz 4: „Eigentum verpflichtet.“ Das Bundesverfassungsgericht hat dies z. B. in Urteilen vom Januar 1967 (Grund und Boden nicht dem Spiel der freien Kräfte vollständig überlassen) und im Jahr 2001 (die Interessen der Allgemeinheit bei Fragen der Bodenordnung geltend machen) berücksichtigt. (S. 49f)
Vogels Empfehlungen u. a.: Grund und Boden dort in den Allgemeinwohlbereich zu überführen, wo er „wohnungsrelevant“ ist. Das Eigentum an diesem Grund und Boden soll auf die Gemeinden übergehen. Es soll ein Verbot für Gemeinden geben, wohnungsrelevantes Eigentum wieder zu verkaufen, es darf nur im Erbbaurecht weitegegeben werden. Bund und Länder sind zu verpflichten, nicht mehr benötigte Flächen kostenlos oder vergünstigt an Gemeinden zu übereignen. – Um die leistungslosen Bodengewinne zu beenden, sollten die wohnungsbaurelevanten Grundstücke in Gemeindeeigentum überführt werden. Die Grundsteuer könnte durch eine Bodenwertsteuer ersetzt werden. Es ist grob ungerecht, dass durch gestiegenen Baulandpreise die Zahl der bezahlbaren Wohnungen abnimmt, der Bodenwert um astronomische Summen wächst. De leistungslosen Bodengewinne kommen zu 55 Prozent den zehn Prozent der Vermögensreichsten zu. (S. 51 – 76)
Ein Problem vor allem heute: Der Fiskus ist an diesen unverantwortlichen, unmoralischen Bodenpreisen nicht uninteressiert: erhöhen sich doch bei jedem Verkauf auch die zu bezahlenden Steuern.
Warum Bodenpreise auch steigen. Das berechtigte Lamento der Münchner Stadtspitze über die irrwitzigen Bodenpreissteigerungen ist einesteils berechtigt, andernteils scheinheilig. Wer ohne Unterlass seit Jahrzehnten immer weitere Firmen mit Tausenden von Arbeitsplätzen in diese Stadt holt, muss sich klar machen, dass er damit die ungeheure Entwicklung der Quadratmeterpreise mit zu verantworten hat. Preise steigen auch in Abhängigkeit von der Knappheit der Güter. Und wenn die Nachfrage nach Grund und Boden in München künstlich gesteigert wird, steigen auch die Bodenpreise. Das sollte eigentlich sehr einfach zu verstehen sein.
Der spätere OB Christian Ude (1993 – 2014) war Herausgeber des Buches „Münchner Perspektiven – wohin treibt die Weltstadt mit Herz?“ Der Beitrag des damaligen OB Georg Kronawitter(1972 – 1978, 1984 – 1993) ist am 9.1.1990 in der SZ erschienen. Bereits damals schrieb Kronawitter: „Die Immobilienspekulation blüht wie nie zuvor. Wer am meisten bezahlt, erhält den Zuschlag. Der Profit erschlägt den Planer! (…) Werden unsere großen Städte nur weiterhin dem freien Spiel der Kräfte und der hemmungslosten Boden- und Mietenspekulation ausgeliefert, wird ein Zuhause für alle Bürger auch in München immer weniger möglich.“4
Januar 1992: Bayerische SPD fordert neues Bodenrecht. Die damalige SPD-Vorsitzende Renate Schmidt hat im Januar 1992 Vorschläge für eine Reform des Bodenrechts vorgestellt. Innenminister Edmund Stoiber (CSU) hatte landesweit 38.000 Hektar Baugrund bestätigt, darauf wären 900.000 Wohnungen möglich. Um Spekulation von Grundbesitzern zu verhindern, will die SPD unbebautes Bauland steuerlich belasten, aber auch die Wohnbauförderung für mehr Bautätigkeit umgestalten. Auch sollte der Kauf von Genossenschaftsanteilen steuerlich begünstigt werden.5
September 1992: Bodenkosten. Der Verband Freier Wohnungsunternehmen nannte Mitte September 1992 eine durchschnittliche Kostenmiete für Wohnungsneubauten in München von 54 DM pro Quadratmeter. Schuld an dieser so hohen wie unrealistischen Zahl seien die Grundstückskosten.6
Februar 1993: SPD will baureifes Land stärker besteuern. Der Anteil des Grundstückspreises beläuft sich inzwischen auf 30 bis 50 Prozent der Wohnungskosten. Die bayerische SPD stellte deshalb im Februar 1993 eine Anfrage, wieviel baureifes Bauland aus Spekulationsgründen zurückgehalten wird. Sie schätzt, dass diese Reserven für den Bau von 900.000 Wohnungen reichen. Baureifes Land in den Kommunen soll steuerlich stärker belastet werden. Auch fordert die SPD ein Vorkaufsrecht der Gemeinden für ungenutztes Bauland, das mindestens sieben Jahre nicht genutzt wurde.7
Mai 1993: Wohnungsunternehmen wollen Bodenpreis höher besteuert sehen. Der Verband der bayerischen Wohnungsunternehmen (VdW), der in Bayern über 550.000 Mietwohnungen verwaltet, konstatierte bei seiner Jahreshauptversammlung das Fehlen von 250.000 Wohnungen in Bayern: Davon müssten die Hälfte Sozialwohnungen sein. Das neue Wohnbauerleichterungs-Gesetz enthält keine Möglichkeit zur Bodenpreissteuerung. Deshalb fordert der VdW für die Kommunen die Möglichkeit, Bauland zum „Wert vor der Umwidmung“ zu kaufen. Auch wird die Liegenschaftspolitik des Bundes kritisiert, der die ehemaligen US-Kasernen nicht verbilligt an Kommunen zum Wohnungsbau vergebe, sondern meistbietend. Die neue Wohnbauförderung von Bund und Land mit zinslosen öffentlichen Darlehen und hohen Abschreibungen („Vereinbarte Förderung“) für Bauherren mit hoher Steuerlast führe zu Mitnahmeeffekten, und nach zehnjähriger Bindung werden die Wohnungen zum Spekulationsobjekt.8
August 2019: Bodenlose Bodenrichtwerte. Der Eigentümer von Aigner Immobilien, Thomas Aigner, sitzt im Gutachterausschuss der Stadt München, die alle zwei Jahre die empirischen Grundstückspreise neu (und jeweils höher) festsetzt. Er hat sich die Preisentwicklung 2014, 2016 und 2018 angesehen. Im Lehel, im Glockenbachviertel und in der Maxvorstadt haben sich die Quadratmeterpreise in den vier Jahren oft verdoppelt. In der Perusastraße in der Innenstadt stieg der Quadratmeter von 50.000 auf 100.000 Euro. Spitzenreiter ist die Kaufingerstraße mit 160.000 Euro. Die hohen Bodenpreise verteuern das Bauen und auch die Preise für Eigentumswohnungen. Ein Beispiel aus der Klenzestraße für das Jahr 2014: Bei einer Geschossflächenzahl von 2,5 (pro Quadratmeter Grundstücksfläche) kostete ein Quadratmeter Wohnfläche 7160 Euro: Davon entfielen 58 Prozent auf den Bodenpreis. Für eine rentable Vermietung bedeutete dies eine Kaltmiete von 19,80 Euro. 2018 kostete durch die gestiegenen Bodenpreise der Quadratmeter 11.500 Euro – 71 Prozent davon machte der Bodenpreis aus. Eine rentable Kaltmiete bedeutet für dieses Beispiel über 27 Euro pro Quadratmeter.9
Investoren kaufen, verkaufen, verdienen. „Die Mieten steigen in den Großstädten vor allem, weil die Bodenpreise steigen. Investoren kaufen Grundstücke, bebauen sie so dicht wie möglich und verkaufen die Wohnungen so teuer wie möglich.“10
Grüner Vorschlag gegen steigende Bodenpreise. Vor der Oberbürgermeister-Wahl am 29.3.2020 stellten die Grünen-Kandidatin Katrin Habenschaden und die grüne Stadträtin Anna Hanusch ein Antragspaket vor.11 Im Antrag I wird die Verwaltung aufgefordert, „ein Konzept zur Umsetzung einer aktiven Bodenvorratspolitik“ zu entwickeln. Verwiesen wird auf die Modelle Wien, Hamburg und Münster. Im Antrag II wird die Verwaltung aufgefordert, alle Vorkaufsrechte zu nutzen und den Stadtrat über mögliche Kaufangebote zu informieren. (Der Antrag zielt auf die völlig unterlassene Informationspolitik im Fall Eggarten ab, ja die aktive Verweigerung einer solchen, wie aus der Antwort von Stadtbaurätin Elisabeth Merk auf den Antrag von Grünen/Rosa Liste vom 17.6.2019 zum Eggarten und zur Siedlung Ludwigsfeld ersichtlich ist: Das Kommunalreferat teilt mit, dass der Stadtrat bei Erwerb, Veräußerung, Tausch und Belastung von Grundstücken mit einem Geschäftswert von über einer Million Euro entscheidet. „Daraus ergibt sich, dass der Stadtrat bei der Entscheidung, Flächen nicht zu erwerben, grundsätzlich nicht zu befassen ist.“12 Im Antrag III wird die LH München aufgefordert, 50 Prozent der in Bebauungsplänen neu geschaffenen Wohnungsbau-Flächen zu erwerben; „Dynamisierung der Mitfinanzierung der sozialen Infrastruktur“; die Verfahrensregeln der SoboN sollen nachverhandelt werden. München hat zwar die SoboN im März 1994 eingeführt, aber die maximal 40 Prozent preiswerter Wohnraum und die Bindungsfristen von 20 bis 25 Jahren sind überholt.13
Gründe für Bodenspekulation in Berlin. Der Berliner Hanno Hochmuth ist am Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung und hat sein Quartier Kreuzberg erforscht. Seiner Meinung nach begann mit der Banken- und Finanzkrise 2008 der Run auf den Berliner Immobilienmarkt. Dazu kamen die billigen Flugreisen und die Vermietung von Wohnraum über die Airbnb-Börse, die auch 2008 gegründet wurde.14
Weitere Gründe für Bodenspekulation: Zum einen: Besser teures Betongold kaufen als keine Zinsen bei Bankeinlagen bekommen oder sogar Strafzinsen zahlen. Dann: Ballungsräume boomen. Metropolen wetteifern um Arbeitsplätze, die kleineren Städte und die Provinz gehen leer aus.
Keine wirklich neue Grundsteuer: Bis 2018 galt die alte Grundsteuer, die auf den Einheitswerten West zum Basisjahr 1964 und Ost zum Basiswert 1.1.1935 galt. Am 10.4.2018 hatte das BVerG diese Berechnungsgrundlage verworfen und forderte eine Neuregelung bis 31. Dezember 2019. Es gab dann ein Bundesmodell, welches die Grundstückswerte, das Alter von Gebäuden und die durchschnittlichen Mietkosten heranzieht. Jedem Bundesland sollen Abweichungen erlaubt werden. So will z. B. Bayern mit seinen hohen Grundstückswerten die Steuerberechnung nur nach Flächen vornehmen; Baden-Württemberg favorisiert als Grundlage für die Besteuerung das Bodenwertmodell.15
Neues Baugesetz gegen Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Am 4.11.2020 sollte ein „Gesetz zur Mobilisierung von Bauland“ vom BMI als Novelle des Baugesetzbuchs vom Kabinett abgesegnet werden. Damit hätten Kommunen ein besseres Zugriffsrecht auf unbebauten Grund und Boden gehabt. Das Vorkaufsrecht von Grundstücken wäre für Kommunen erleichtert worden. Mieter sollten besser bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen geschützt werden, die bis zu fünf Jahre untersagt werden sollte. Immobilienverbände haben gegen die „Umwandlungsbremse“ protestiert, darunter 49 Berliner Immobilienunternehmen. Im Vorfeld strich das BMI schon einmal die Umwandlungsbremse; nach Protesten der SPD kam die Passage wieder in die Novelle. Nun wurde diese am 4.11.2020 wurde wegen „Abstimmungsbedarf“ verschoben.16
Hier ist wohl die weitere „Abstimmung“ mit der Immobilienwirtschaft gemeint.
Nachtrag vom Juni 2021: Das Baumobilisierungsgesetz trat am 15.6.2021 in Kraft.17
Vierteilige Veranstaltungsreihe zu SEM Nordost. Die „Münchner Initiative für ein neues Bodenrecht“ organisiert eine vierteilige Online-Veranstaltung.18 Die Initiative will gegen die derzeitige horrende Entwicklung der Bodenpreise aktiv werden.19 Aus dem Aufruf „Ein soziales Bodenrecht“: „Der Boden ist kein Gut wie jedes andere. Vergleichbar Wasser und Luft ist er unverzichtbar für das menschliche Dasein. Boden ist zugleich unvermehrbar. Daher verbietet es sich, Boden dem freien Marktgeschehen zu überlassen. Unsere Verfassung betont die Gemeinwohlbindung des Eigentums. Beim Boden ist dem in besonderer Weise Rechnung zu tragen.“20
Ich sehe das anders. Denn der Boden ist wirklich nicht vermehrbar, aber deshalb darf er auch nicht wegen günstigerer Preisen zugebaut und versiegelt werden. Ich habe aufmerksam die Broschüre von Hans-Jochen Vogel gelesen: „Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar“ und kann da vieles unterschreiben. Ich verurteile – auch als Münchner Grundbesitzer -, zutiefst die wahnwitzige Entwicklung der Grundstückspreise und die damit verbundene Tendenz zu oft nur allzu selten genutzten Luxuswohnungen für Anleger und Spekulanten und zu horrenden Mieten mit dramatischen sozialen Folgen. Ich verurteile aber genauso die krankhafte Ansiedlung immer weiterer Unternehmen mit Tausenden Arbeitsplätzen in München, wie sie derzeit das Münchner Referat für Wirtschaft in der Person von Clemens Baumgärtner (CSU) und die gesamte Stadtpolitik seit spätestens dem Jahr 2000 unter den Oberbürgermeistern Christian Ude (SPD) und Dieter Reiter (SPD) bis heute betreiben. Und ich kann deshalb auch die Weiterplanung der SEM Nord (großflächige Umwandlung von 900 Hektar Grün- und Ackerland in bebaute Fläche) der SEM Nordost (großflächige Umwandlung von 600 Hektar Grün- und Ackerland in bebaute Fläche) und den Umgang mit den dort tätigen Landwirten nicht akzeptieren. Abgesehen davon, dass sämtliche Beteuerungen für mehr Klimaschutz nur lächerlich sind angesichts der derzeit überschlägig geplanten Bebauung von weiteren 2000 Hektar Acker-, Grün- und Brachflächen im Stadtgebiet bis 2035. Wer will und kann in Zeiten der Klimakatstrophe dann noch in München leben und überleben?
Bodenknappheit politisch erzeugt? Im ZEIT-Interview erklärt Architekt Patrick Schumacher: „Wenn der freie Markt jetzt seine Kräfte entfalten darf, werden wir bald einen Entdeckungsprozess erleben. (…) Es reicht, dass Unternehmer und Investoren über das Angebot nachdenken und es am Markt testen. (…) Die gegenwärtig erzeugte Knappheit des Bodens ist zudem eine politisch erzeugte.“21
Damit kann Architekt Schumacher nur meinen, dass die letzten geschützten Refugien für seine freien Kräfte des Marktes geopfert werden. Marktliberalismus gegen Natur- und Umweltschutz, Denkmalschutz, Stadtplanung. (Letztere mag man in München fast nicht erwähnen – bei der hiesigen ordoliberalen Stadtplanung, die im Grundsatz alles für bebaubar hält, was den Dogmen Arbeitsplätze und Wohnungsbau dient.)
Bodenwertsteigerung. Die Bundesbank errechnete für das Jahr 2018 einen Gesamtwert von 3296 Milliarden Euro für den deutschen Grund und Boden, der im Besitz deutscher Privathaushalte ist. Von den reichsten zehn Prozent der Deutschen wohnen über 90 Prozent in der eigenen Immobilie; von den unteren 40 Prozent weniger als fünf Prozent. Die Grundsteuer beträgt weniger als zwei Prozent des Staatshaushalts. In diesem Zusammenhang wird eine Bodenwertsteuer diskutiert: Der Wertzuwachs von Grund und Boden würde besteuert und damit der Allgemeinheit zugutekommen. Das würde automatisch aber zu einer möglichst dichten Bebauung führen. (Was aufgrund der hohen Quadratmeterpreise heute schon der Fall ist.) „Der Besitzer eines Hochhauses würde genauso viel Steuern zahlen wie der Besitzer eines Einfamilienhauses mit der gleichen Grundstücksfläche.“22
Boden-los. Im Architekturzentrum Wien wurde 2021 die Ausstellung „Boden für Alle“ gezeigt, die den achtlosen Umfang mit Boden aufzeigt. Die Kuratorin Karoline Mayer zur Bodenspekulation in Österreich: „Das große Problem ist, dass Boden so viel wert ist und viele Leute vom Wert des Bodens profitieren. Österreich hat in den letzten 20 Jahren so viel Ackerfläche verloren, wie das Bundesland Steiermark groß ist. Einfach aus dem Grund, weil sich durch den Verkauf von Boden mehr Geld machen lässt als mit der Ernte.“23
- Mitscherlich, Alexander, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt 1965, S. 21 [↩]
- Mitscherlich, Alexander, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt 1965, S. 109 [↩]
- Vogel, Hans-Jochen, Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar, Freiburg 2019 [↩]
- Alle Zitate: Kronawitter, Georg, Perspektiven und Alternativen für ein München von morgen, in SZ 9.1.1990 [↩]
- Schmitt, Peter, Neues Bodenrecht soll Baulandmangel kurieren, in SZ 28.1.1992 [↩]
- Wörl, Volker, Turbulenzen im Wohnungsbau, in SZ 17.9.1992 [↩]
- Eckert, Hans-Wilhelm, Kampfansage an die Bodenspekulanten, in SZ 23.2.1993 [↩]
- Roß, Andreas, Größter Bremsklotz ist der Baulandpreis, in SZ 12.5.1993 [↩]
- Hoben, Anna, Ein Quadratmeter für 160.000 Euro, in SZ 30.8.2019 [↩]
- Fuhrhop, Daniel, Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß, München 2020, S. 69 [↩]
- www.gruene-fraktion-muenchen.de, Drei Anträge: Mehr dauerhaft bezahlbarer Wohnraum I: Basis für aktive kommunale Bodenvorratspolitik schaffen; Mehr dauerhaft bezahlbarer Wohnraum II: Sicherung von unbebauten Flächen über Vorkaufsrecht nach §24 Baugesetzbuch; Mehr dauerhaft bezahlbarer Wohnraum III, Mit der neuen SoboN mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und dauerhaft sichern, München 11.2.2020 [↩]
- LH München, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, Antwort von Prof. Dr. (I) Elisabeth Merk, 17.6.2019; Hervorhebung WZ. Das lässt viele Spekulationen offen: zum Beispiel, welche informellen Beziehungen zwischen einem Investor und dem Referat für Stadtplanung bzw. dem Kommunalreferat denkbar sind. [↩]
- Siehe dazu die Broschüre: LH München, Referat für Stadtplanung, Kommunalreferat, Die sozialgerechte Bodennutzung – Der Münchner Weg, München 2020. Vgl. auch: Dürr, Alfred, Stadt soll freie Flächen aufkaufen, in SZ 12.2.2020 [↩]
- Klute, Hilmar, Allgemeine Verunsicherung, in SZ 12.10.2020 [↩]
- Wikipedia; Löhr, Dirk, Bodenlos, in SZ 31.10.2020 [↩]
- von Bullion, Constanze, Krass, Sebastian, Stadt im Wandel, in SZ 4.11.2020 [↩]
- https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*[@attr_id=%27bgbl121s1802.pdf%27]#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl121s1802.pdf%27%5D__1636115619922 [↩]
- Graner, Nicole, Virtueller Andrang, in SZ 21.11.2020 [↩]
- https://www.stattbau-muenchen.de/ein-soziales-bodenrecht.html [↩]
- https://www.stattbau-muenchen.de/files/stattbau/bodenrecht/M%C3%BCnchner%20Aufruf%20f%C3%BCr%20eine%20andere%20Bodenpolitik.pdf [↩]
- Alle Zitate: Hamann, Götz, Jungclaussen, John F., „Wir brauchen Pop-up-Wohnungen“, in Die Zeit 10.12.2020. Schumacher leitet das Architekturbüro Zaha Hadid. [↩]
- Schieritz, Mark, Eine bodenlose Ungerechtigkeit, in Die Zeit 30.12.2020 [↩]
- Weismüller, Laura, Die Bodenlosen, in SZ 25.5.2021. Die Steiermark ist rund 16.400 Quadratkilometer groß; WZ [↩]